Lernplattformen für Schüler
Fehler im System
Login-Probleme, gesperrte Konten, überlastete Server: Der Unterrichtsstart nach den Ferien zeigte wieder einmal: Beim digitalen Lernen ist Deutschland ein Entwicklungsland. Dabei gäbe es einfache Lösungen.
5. Klasse Deutsch an einer Regionalschule in Rostock: Klassenlehrerin Susann Meyer lässt die Schüler einen Test schreiben. Die Kinder haben den ganzen Tag Zeit, die ausgefüllte Word-Datei an die Lehrerin zurückzuschicken. In der vergangenen Woche hat sie mit der Klasse jeden Tag Rechtschreibregeln wiederholt - per Upload von Dateien in der Lernplattform ItsLearning. Jetzt will sie sehen, wie viel davon hängen geblieben ist.
So oder so ähnlich sieht Unterricht in Corona-Zeiten aus. Theoretisch jedenfalls. Schon am Folgetag war die Lernplattform wieder von Störungen betroffen. Seiten wurden nur langsam geladen, Push-Nachrichten konnten nur mit Verzögerung empfangen werden. Zu Beginn des Lockdowns vor Weihnachten war erstmal das ganze System wegen Überlastung zusammengebrochen und es mussten zunächst zusätzliche Serverkapazitäten geschaffen werden.
Störungen der Lernplattformen in allen Bundesländern
Ähnliche Probleme gibt es aus allen Bundesländern von allen Lernplattformen zu berichten. Mal ist es Überlastung, weil alle sich gleichzeitig anmelden, mal funktioniert der Login nicht, mal fallen die Videokonferenzsysteme aus.
Für Susann Meyer gehört das zum Alltag. Die 37-Jährige unterrichtet Deutsch, Sozialkunde, Wirtschaft und Informatik und ist an ihrer Schule ItsLearning-Administratorin. Neben der anfänglichen Überlastung der Plattform ist eines der Hauptprobleme, dass immer wieder Konten gesperrt sind. Sei es, weil Schüler ihre Passwörter zu oft falsch eingeben, sei es, weil es einen Fehler im System gibt. 40 Passwörter setzt Meyer seit Weihnachten täglich zurück. Doch wenn das Konto gesperrt ist, muss sie die Schüler an den Support der Plattform verweisen - und bis die sich dann wieder einloggen können, ist die Woche vorbei.
Es fehlt an Serverkapazität
Distanzlernen ist ein mühsames Geschäft, die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Klagen darüber. Digitalexperte Michael Pickhardt, Leiter des Telekommunikationsunternehmens TDT, sieht sie vor allem in den Versäumnissen der Vergangenheit. "Online-Unterricht hätte schon seit einem Jahrzehnt möglich gemacht werden müssen, nicht erst jetzt für den Ausnahmezustand der Corona-Zeit", sagt er im Gespräch mit tagesschau.de. Dann gäbe es viele der aktuellen Probleme nicht, weil man längst Erfahrungswerte hätte.
Dass die unterschiedlichen Lernplattformen immer wieder überlastet sind, liege zum einen an Serverkapazitäten, meint er. "Es wäre aber kein Problem, die zusätzlich aufzubauen. Es gibt viele Anbieter in Deutschland, bei denen man solche Server mieten kann." Das sei weder besonders kompliziert noch besonders teuer. Wichtig dabei sei aber, dass diese Server in Deutschland stehen, weil nur so die notwendigen Sicherheits- und Datenschutzkriterien erfüllt werden könnten.
Pickhardt: "Seit März ist nichts passiert"
Teilweise seien aber auch Software-Probleme die Ursache. Man habe bei einigen der Plattformen versucht, zig Anwendungen hineinzupacken. "Jetzt sind die zwar schick, aber sie funktionieren oft nicht", sagt er und plädiert stattdessen für eine entschlackte Variante, in der es nur die Basisfunktionen gibt, die aber dafür störungsfrei. Dazu zähle: ein Kommunikationskanal, eine sichere Cloud, in der man Dokumente hoch- und runterladen kann und ein Videokonferenzsystem, das laut Pickhardt ebenfalls "unserem Gott sei Dank strengen deutschen Datenschutzrichtlinien" entsprechen müsse. So etwas könne man sehr zeitnah auf die Beine stellen. Stattdessen sei aber seit März nichts passiert.
Wichtig sei auch, dass die Anwendung Browser-basiert funktioniere. Denn sobald irgendetwas zu Hause installiert werden müsse, fingen die Probleme an. Momentan sei es schon ein Problem, wenn Lehrer und Schüler bearbeitungsfähige Dokumente austauschen wollen.
Smartphones und Tablets oft nicht kompatibel
Das kann Regionalschulrätin Meyer bestätigen. "Oft, wenn Schülerinnen und Schüler Dokumente auf eigenen Geräten mit anderen Betriebssystemen bearbeiten, kann ich sie erst nach mehrmaligen Versuchen öffnen oder sie können sie gar nicht erst versenden", erzählt sie im Gespräch mit tagesschau.de. "Dann machen sie ein Foto vom Bildschirm und schicken mir das. Aber das ist natürlich nicht Sinn der Sache."
An mangelndem Know-How kann es bei der Informatiklehrerin, die auch Sprecherin für Studenten und Junglehrer des Verbands für Bildung und Erziehung (VBE) ist, nicht liegen. Da viele Schüler nur ein Smartphone für den Online-Unterricht zur Verfügung hätten oder auf unterschiedlichsten Tablets und Betriebssystemen arbeiteten, gäbe es massenhaft Kompatibilitätsprobleme. Manche ihrer älteren Kollegen, denen sie Workshops in digitalem Unterrichten gibt, kommen damit gar nicht zurecht und weichen auf Kopien aus, die sie verteilen oder telefonieren täglich ihre Schüler ab.
Ganze Landstriche im Funkloch
Nun ist Meyer keine von den ewigen Meckerern. Im Grunde findet sie ihre Lernplattform gut. Vor allem, dass auch eine Datenbank integriert ist, die Lernvideos und -dateien enthält, gefällt ihr. Auch, dass bei ItsLearning noch kein Videokonferenzsystem integriert ist, findet sie verschmerzbar, da könne man auf andere Systeme ausweichen. Aber sie sorgt sich um die Schüler, die wegen der teilweise so rückständigen Technik benachteiligt sind.
"Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern Landstriche, die komplett im Funkloch liegen. Da müssen kopierte Aufgaben per Post hin- und hergeschickt werden", erzählt sie. Die Kinder dort liefen Gefahr abgehängt zu werden. Und auch ihre eigene Schule mitten in Rostock habe bislang weder WLAN, noch sei sie an Breitbandinternet angeschlossen. In dem alten, sanierungsbedürftigen Schulgebäude sei das baulich nicht möglich, heißt es.
"Internet-Cafés" für Schüler ohne Digital-Zugang
Wie soll bei solcher Ausstattung digitaler Unterricht auch für solche Schüler stattfinden können, wo nicht jeder in der Familie einen eigenen Laptop hat, geschweige denn schnelles Internet?
Eigentlich müsste es für solche Schüler in jeder Gemeinde corona-konforme Räumlichkeiten geben, in denen ihnen alles zur Verfügung gestellt wird, was sie für das Online-Lernen brauchen, ähnliche einem Internet-Café, fordert IT-Experte Pickhardt. Auch Leihgeräte, die die Schule zur Verfügung stellt, wären eine Variante.
Berner: "Schulen und Kitas sind systemrelevant"
Doch unter anderem, weil das alles in weiten Teilen des Landes nicht gewährleistet ist, fordern Kinder- und Jugendärzte schon lange, den Lockdown der Schulen und Kitas so kurz wie möglich zu halten. "Schulschließungen dürfen nur das allerletzte Mittel sein, denn Schulen und Kitas sind für Kinder systemrelevant", appelliert Reinhard Berner, Direktor der Kinderklinik der Technischen Universität Dresden.
"Für Kinder ist der Kontakt mit Gleichaltrigen und das soziale Leben ein essentiell hohes Gut." Man habe ja auch nicht alle Fleischfabriken geschlossen, obwohl es dort zahlreiche Infektionsfälle gab. Auch in Krankenhäusern oder systemrelevanten Betrieben behelfe man sich mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen. Gleiches müsse auch für Schulen gelten und da gäbe es genügend Möglichkeiten.
Psychische Auffälligkeiten haben zugenommen
Die negativen Auswirkungen für Kinder und Jugendliche sind seit dem ersten Lockdown belegt. Psychische und psychosomatische Auffälligkeiten wie Gereitztheit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Niedergeschlagenheit sind laut einer Studie von 18 auf 30 Prozent gestiegen. Berner geht außerdem davon aus, dass die Dunkelziffer von Verwahrlosung und häuslicher Gewalt sehr hoch sein dürfte. Beim letzten Lockdown sei die Nutzung der Kinderschutzhotline um 30 Prozent zurückgegangen.
Vor allem sei es jetzt wichtig, den Kindern eine Perspektive zu geben. "Viele fragen sich, wann hört das auf? Das nicht zu wissen, ist sehr belastend", so Berner. Wenn es eine klare Frist gäbe, ein erkennbares Ziel, wäre das für die Kinder sehr hilfreich.